Das Judensteinmännchen
„Ein Logo ist ein grafisches Zeichen das ein bestimmtes Subjekt repräsentiert – z. B. ein Unternehmen, eine Organisation, Privatpersonen oder ein Produkt. Es kann als reine Bildmarke, Wortmarke oder Wort-Bild-Marke gestaltet sein und ist der wesentliche Bestandteil des visuellen Erscheinungsbildes (Corporate Design) sowie Träger der Identität (Corporate Identity) des Rechteinhabers.” (aus Wikipedia)
Unser Judensteinmännchen ist demnach im wahrsten Sinne ein Logo: Es ist ein Produkt unseres inneren Schulentwicklungsprozesses. Es versucht zum einen das Menschenbild zu symbolisieren, das wir an unserer Schule leben wollen. Es versucht aber auch wichtige Elemente der Schulstruktur unserer Schule symbolisch auszudrücken.
Der Vater unseres Judensteinmännchens fasste im Jahresbericht 11/12 die Symbolik unseres Logos folgendermaßen zusammen:
Logo-Motiv oder kann ein Logo altern?
Es ist in die Jahre gekommen, unser Judenstein(zeit)männchen, diese Gründerfigur unserer Schulentwicklung aus den frühen Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts. Sollte es da nicht sichtlich gealtert sein, mit hängenden Schultern, das inzwischen kahle Haupt zu Boden gesenkt, die übergroßen Hände schwer hinter sich nachschleifend, erledigt von all den Mühen zwanzig Jahre lang „Schule zu machen“, zermürbt von der pädagogischen Aufbauarbeit, deren Aufwand oft ebenso groß ist wie ihre Erfolge gering, ausgepowert von Auseinandersetzungen, die leider nicht immer zu vermeiden waren? – Aber nein, unbesorgt. Symbole sind genauso unkaputtbar wie Comicfiguren. Und Schule ist ein Prozess des Werdens, da ist immer alles frisch, da wächst die Kraft nach. Und Haare hatte der dreibeinige und drei- bzw. vierfingrige junge Mann auch damals schon keine.
Aber wir waren der Meinung, es wäre an der Zeit, wieder einmal genau hinzusehen, ihn sich wieder genauer anzuschauen, aufmerksam zu werden auf das, was er uns zeigen will, auf seine „inneren Werte“ sozusagen, seine Bedeutung.
Und dazu gehen wir gleich noch ein paar Jahrhunderte zurück, zum großen Bruder unserer Figur, gezeichnet vom großen Leonardo da Vinci in einer Zeit, in der sich die Menschen in Europa neu erfanden und dazu auch die Welt neu erfinden mussten. Dabei konnten sie schon damals auf eine sehr solide Basis zurückgreifen: auf die von ihnen so sehr verehrte Welt der Griechen und Römer, auf die messerscharfen Analysen des Aristoteles, die idealistischen Visionen Platons und die realpolitische Vernunft römischer Praktiker.
Gezeichnet wurde der selbstbewusste vielgliedrige Mann in Kreis und Geviert von Leonardo, nicht aber erfunden. Er- oder besser gefunden hat ihn genau ein solcher römischer Praktiker, ein Baumeister namens Vitruv, der den spärlichen Quellen nach ein ähnlich genialer Kopf gewesen sein muss wie der Meister aus Vinci. Vitruv beschreibt in seinem Lehrwerk über die Architektur nicht nur deren Materialien, ihre tektonischen und technischen Grundlagen, er spricht nicht nur über Gestalt und Funktionalität der Bauwerke, sondern er bezieht auch ganz ausdrücklich den Menschen mit ein, für den die Gebäude ja bestimmt sind. Für Vitruv, der Baukörper entwickelt, ist es wichtig und notwendig, den menschlichen Körper zu begreifen, seine Proportionen, seine Wohlgeformtheit, seine „Geometrie“. Die Schönheit der Bauwerke sollte die Schönheit des Menschen reflektieren. Für antike Menschen war das Erstrebenswerteste das rechte Maß. Ihr Begriff „Kosmos“ bedeutet gleichzeitig Ordnung und Schönheit. Das Ungeordnete war das Barbarische, das Chaos. Am allerschönsten aber war für sie der wohlproportionierte Mensch. Er kommt dem nahe, was für Platon die reinste und höchste Idee ist: die Zahl, die Mathematik als reine Form ohne störenden Inhalt.
Von diesen Zusammenhängen schreibt Vitruv in seinem Buch. Und Leonardo visualisiert sie in seiner berühmten Zeichnung und beweist damit, dass der Mensch schön und gut ist, eingepasst in einen wohlgeordneten Kosmos. Künstler-Denker wie Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci versuchen mit Erfolg, die Weisheit der Antike und den Glauben des Mittelalters in eine Synthese zu bringen und weisen damit gleichzeitig dem Menschen eine neue, nie gekannte Freiheit im Zentrum der Schöpfung zu. Und so schaffen sie, zusammen mit vielen anderen Großen ihrer Zeit, die Grundlagen all des Fortschritts der folgenden Jahrhunderte. Und auch all des Grauens.
Wenden wir aber den Blick von der Weltschau der Renaissance-Genies wieder zurück auf den Mikrokosmos unserer Schule. Zwar sind die Dimensionen da natürlich unvergleichlich geringer, die Parallelen aber sind unverkennbar. Auch am Judenstein ist ein permanenter Findungsprozess im Gange, suchen Menschen sich und ihren Ort in der Welt, erfinden, entdecken und profilieren sich, binden sich ein in Ordnungen und werden eingebunden – mit unterschiedlichem Erfolg. Mit anderen Worten, das von der Renaissance geschaffene Menschenbild gilt im Grunde auch heute und gerade in Schulen noch immer. Kein Wunder, die gesamte westlich geprägte Welt beruft sich nach wie vor darauf.
Warum sieht dann unser Judensteiner so ganz anders aus als Leonardos Mr. Perfect? Gut, wir können nicht so gut zeichnen wie er. Und er zeichnete eine Vision des idealen Menschen. Am Judenstein ist niemand perfekt, nicht die Schüler, nicht die Lehrer, nicht einmal der Chef, vielleicht der Hausmeister. Der Vitruv-Mann ist vollendet, die Menschen am Judenstein sind noch unfertig, im Werden begriffen, voller Möglichkeiten, die entfaltet werden können, auch unsicher, veränderbar – und das gilt nicht nur für die Schüler. Und manchmal sind sie auch etwas zerknittert – und das gilt nicht nur für die Lehrer.
Bei der Geburt des Schullogos gab es eine ganze Reihe interessanter Ideen, etwa ein hebräisches Schriftzeichen sinnfällig umzugestalten oder mit dem Bild eines Baumes das Wachsen und Formfinden, auch das Sicheinwurzeln anschaulich zu machen. Von beidem findet sich etwas wieder in unserer Figur: Die Reduktion des Körpers auf ein lineares Gebilde erinnert an archaische Schriftzeichen wie sie von Künstlern wie Keith Haring oder A. R. Penck in ihren Werken eingesetzt wurden. Diese Zeichen sind archetypisch-offen, nichteindeutig, vielschichtig. Im Historischen Museum von Regensburg kann man sich darüber informieren, dass bereits in der Eisenzeit stark vereinfachte und damit Vieles bedeutende Strichmännchen als Keramikdekor eine Besonderheit Nordostbayerns waren. Und so lange ist die Eisenzeit ja wohl noch nicht vorbei.
Und auch das Baumhafte kann von einem offenen linearen Zeichen stärker verdeutlicht werden als von einem naturnahen Körper. Die vier von Leonardo gezeichneten Beine assoziiert man nicht mit Wurzeln. Und natürlich sind auch nur zwei Beine gemeint, in unterschiedlichen Körpergebärden dargestellt. Bei Mr. Judenstein ist das anders, da sind’s wirklich drei Beine. Und zusammen mit den sich astartig nach oben streckenden Armen und den sich verzweigenden Fingern kann (und soll) man sehr wohl an eine Pflanze denken mit all den erwähnten Konnotationen. Einfach nur so ein Baum als Logo wäre für eine Schule wie die unsere natürlich zu banal gewesen, zu platt und brav. Das überlassen wir einschlägigen Bausparkassen oder Versicherungen. Ein bisschen Pep steht uns schon zu. Originalität sowieso.
Allerdings sind die Beine nicht wirklich eingewurzelt. Da sind ja auch Füße dran. Denn er/sie soll ja auf eigenen Beinen stehen können. Und zwar fest stehen, seinen Standpunkt finden und behaupten. Nur bei einem Dreibein ist ein Wackeln unmöglich. Bleibt zu hoffen, dass er nicht über die eigenen Beine fällt, wenn er sich seinen eigenen Weg sucht.
Und natürlich können die drei Beine auch ganz direkt auf die Schulstruktur bezogen werden, auf die drei Wahlpflichtfächergruppen als die Standbeine unserer Schule.
Dass unser Strichmännchen an einer Hand nur vier, an der anderen gar nur drei Finger vorzuweisen hat, liegt weniger an der Erkenntnis von Walt Disney, dass fünf Finger schnell mal wurstartig wirken, sondern ist eine Übernahme aus archaischen Zeiten. Damals galt diese Darstellung als Hinweis auf die Beziehungen des Menschen zur realen irdischen und zur geistig transzendenten Welt: Die Vier steht für die vier Himmelsrichtungen, für den horizontalen Lebensraum, der Bewegungsfreiheit verspricht und den es in Besitz zu nehmen gilt. Die Zahl Drei deutet auf den vertikalen Raum hin, in den der Mensch spirituell eingespannt ist. Das mag für den einen Himmel, Erde und Hölle heißen, für den andern Transzendenz, Bewusstsein und animalische Triebhaftigkeit, auch Geist, Vernunft und Instinkt oder in der Diktion Freuds Über-Ich, Ich und Es. Zugegeben, dieses Zitat zur Darstellung der weltlichen und geistigen Möglichkeiten des Menschen bleibt für die meisten Betrachter ohne entsprechenden Hinweis unverständlich. Das tut aber seinem Wahrheitsgehalt keinen Abbruch.
Ein weiteres irritierendes Merkmal unseres idealen Normalmenschen gilt es anzusprechen, den Querstrich in der Mitte. Er markiert diese Mitte. Die Figur besitzt ja nicht nur eine vertikale Symmetrie, sondern auch eine horizontale (mehr oder weniger – aber Symmetriebrüche sind ja der Grund unserer Existenz, sagen die Physiker). „Wie oben, so unten“ weiß schon Hermes Trismegistos, der weise Ägypter, vormals Gott der Schrift und der Gelehrsamkeit, heute wabernder Apostel der Esoterik – ein Gedanke, der nicht nur in bezug auf die hierarchische Struktur einer Schule interessant ist. Der Querstrich gibt also die Mitte des Menschen an, sein Herz vielleicht. Nur wer eine eigene feste Mitte besitzt, kann sich aufmachen den umgebenden Raum zu erkunden. Wenn sich Menschen ohne Mitte dennoch bewegen, dann nur als Mitläufer. Dass die Bezeichnung dieser Mitte die Form eines Kreuzes bildet, mag für manchen nicht ohne Bedeutung sein.
Leonardo passte seine Figur akkurat in die schöne Form, in die Geometrie ein. Wir sind da ein Stück weiter, und zwar gerade mal um eine Fingerspitzenlänge. Das scheint nicht viel für fünfhundert Jahre, ist aber nicht unbedeutend. Es deutet an, dass wir in der Lage sind, uns über den vorgegebenen Rahmen hinaus zu tasten. Oder ihn auszuweiten. Ihn womöglich zu verlassen und eigene Horizonte zu schaffen. Dabei kann das schwarze Rechteck die Schulordnung meinen, auch allgemeiner den gesellschaftlichen Rahmen, an dem man sich nun einmal zu orientieren hat, wenn so viele Menschen vernünftig und produktiv zusammenarbeiten sollen, und den man manchmal als beengend erlebt, als Eingrenzung, gegen die man andrückt. Diese schwarze Fläche kann ebenso für den eigenen, noch begrenzten Horizont stehen, den es zu erweitern, wie für den Kleingeist, den es zu überwinden gilt. Und sie kann den Schutzraum darstellen, den die Schule bietet, vergleichbar dem goldenen Raum, in den die Figuren auf mittelalterlichen Bildern eingebettet sind. Die vorwitzigen Fingerspitzen fordern jedenfalls alle auf, über diesen Rahmen hinaus zu denken und sich – zumindest manchmal – auch darüber hinaus zu wagen.
Die Farbstellung unseres Schullogos soll natürlich die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-EM motivieren. Aber nicht nur. Schwarz, Rot und Gelb bilden zusammen einen höchst aktiven, geradezu aggressiven Farbdreiklang. Das Logo soll sich sozusagen in die Netzhaut einbrennen. Aber wir sind auch flexibel: Die Jahresberichte der vergangenen Jahre präsentierten das Logo in immer wieder neuem Farbgewand. Und jedes steht ihm. Und jedes hat was.
Ja, und eins noch. Es wurde ja schon gesagt, dass die Figur unseres Symbols Assoziationen zu einem Schriftzeichen ebenso wie zu einem Baum hervorrufen soll. Und tatsächlich steckt beides auch ganz unmittelbar drin: Deckt man den unteren Teil ab, so ähnelt der Rest dem hebräischen Zeichen für „Sch“ wie Schule. Und nimmt man den oberen Teil weg, so sieht man das chinesische Zeichen für Baum. Und für Holz.
Franz Huber